Ein fast normales Leben
Ganz am Anfang sollte Kai nicht älter als fünf werden. Kai war ständig schwer krank und keiner wusste warum. Insgesamt sechs HIV-Tests wurden gemacht, weil das die ständigen Lungenentzündungen, Asthmaanfälle, Hautauschläge und Pilzentzündungen noch am besten zu erklären schien. Mit zwei Jahren gab es den ersten Verdacht auf Hyper-IgE-Syndrom, doch erst 20 Jahre später konnte es durch einen Gentest bestätigt werden. Heute ist Kai 26 und er weiß ganz genau, dass sein Gen STAT-3 auf dem 21. Chromosom defekt ist und dafür sorgt, dass sein Körper von einem bestimmten Antikörper (Immunglobulin E) gegen Parasiten zu viele und von anderen Antikörpern gegen Bakterien, Viren und Pilze zu wenig produziert. Das Hyper-IgE-Syndrom gibt es auf der Welt keine 1000 Mal. Die Krankheit ist nicht nur selten, die Symptome sind auch noch sehr unterschiedlich. Was alle Patienten gemeinsam haben ist, dass die Milchzähne nicht ausfallen und gezogen werden müssen. Bei Kai kommen noch sehr starke Allergien gegen Milcheiweißprodukte, Nüsse, Schimmel, Nichtedelmetalle und Polyester dazu und dass seine Knochen ständig brechen: fast alle Finger, mehrere Zehen, beide Schlüsselbeine, ein Sprunggelenk und sogar die Schädelbasis. Die gebrochene Kniescheibe hat er erst gar nicht gemerkt.
In der Grundschule wäre es Kai lieber gewesen, niemand hätte von seiner Krankheit gewusst, doch eine Lehrerin hat sich verplappert und ab da wurde er so richtig ausgegrenzt. Er entwickelte sich immer mehr zum Einzelgänger. Erst in Freiburg hat es sich geändert. Hier führt er ein fast normales Leben als Physik-Student in einer WG. Das funktioniert, weil das Centrum für Chronische Immundefizienz (CCI) des Universitätsklinikums Freiburg den richtigen Therapiemix gefunden hat. Kai bekommt einmal pro Monat eine Immunglobulin-Therapie, er nimmt ständig ein Antibiotikum und ein Antimykotikum, bei Bedarf schmiert er Salben und er kann seinen Arzt Prof. Dr. Bodo Grimbacher, Wissenschaftlicher Direktor am CCI, immer auf dem Handy anrufen. Vor allem für diese individuelle Betreuung ist er nach Freiburg gezogen von Gießen aus. Dort konnte er nicht mehr weiter studieren, weil die Krankheit zu schwer ausgebrochen war. Trotzdem war auch in Freiburg, mal wieder, der Start nicht einfach. Das BAföG-Amt wollte nicht anerkennen, dass er im Physikstudium wegen seiner Krankheit hinterherhinkt und hat ein Jahr lang nicht gezahlt. Erst kurz vor dem Gerichtstermin hat das Amt eingelenkt und alles nachgezahlt.
Inzwischen ist es nicht mehr weit bis zum Bachelor und Kai hat Pläne. Er will nach Japan zum „Work und Travel“. Japanisch lernen und Aikido trainieren, später vielleicht noch den Master machen, als Physiker arbeiten und zwei Kinder adoptieren. Einem leiblichen Kind würde er mit einer Wahrscheinlichkeit von 50 % seinen Gendefekt vererben. Das will er nicht, aber einen ganz wichtigen Punkt gibt es noch auf seiner Liste. Am CCI wird gerade an einer Genschere geforscht, die sein kaputtes Gen außer Gefecht setzen könnte. Kai wäre geheilt. Bei Einzellern hat es schon geklappt. Als nächstes sind die Mäuse dran. „Wenn es zu einer Studie an Menschen kommt, bin ich der Erste der sich meldet“, sagt Kai. Bis es soweit ist, möchte er in Freiburg bleiben. Er hat genügend Zeit zu warten.